KURIOSES

von MLaw Philipp Hagen


Schon mal vom "False memory syndrome" gehört?


Das jüngst ergangene Urteil des Bundesgerichts BGer 5A_706/2022 stellte für den Vater einer erwachsenen Tochter einen Schlag in die Magengrube par excellence dar: Er muss dieser Volljährigenunterhalt bezahlen – obwohl die Tochter schon seit Jahren behauptet, ihr Vater habe an ihr diverse rituelle bzw. satanistische Gewaltverbrechen vorgenommen, als sie noch ein Kind war. Sie zeigte ihren Vater deswegen gar an: u.a. wegen versuchter vorsätzlicher Tötung, Vergewaltigung und Inzest musste sich der Vater vor den Strafverfolgungsbehörden verantworten. Das Verfahren wurde allerdings schon bald wieder eingestellt – die Angaben der Tochter stimmten ganz offensichtlich nicht.

Gemäss Art. 277 Abs. 2 ZGB haben Eltern ihrem erwachsenen Kind Unterhalt zu bezahlen, wenn dieses noch keine angemessene Ausbildung abgeschlossen hat, und es den Eltern zugemutet werden kann. Diese „Zumutbarkeit“ hat nicht nur eine wirtschaftliche Komponente (können es sich die Eltern leisten, Unterhalt zu bezahlen?), sondern auch eine persönliche (wie sieht das tatsächliche Eltern-Kind-Verhältnis aus?). Bezüglich letzterer Frage ist es ständige Rechtsprechung des Bundesgerichts, dass Eltern keinen Volljährigenunterhalt zu bezahlen haben, wenn das Kind seine familiären Pflichten zu gegenseitiger Achtung, Beistand und Rücksicht (Art. 272 ZGB) schuldhaft verletzt. Falsche Anschuldigungen betreffend Tötung, Vergewaltigung etc. fallen da definitiv darunter.

Klarer Fall also, oder? Denkste! Denn das Schlüsselwort ist hier „schuldhaft“. Die Tochter leidet an Paramnesie **(sog. False memory syndrome): sie kann nicht zwischen tatsächlich Erlebtem, und nur Phantasiertem unterscheiden. Aufgrund dieser Krankheit habe die Tochter „die beinahe unumstössliche Meinung gebildet, Opfer ritueller Gewaltverbrechen ihres Vaters geworden zu sein“, wie das Bundesgericht ausführte. Deshalb habe sie ihre familiären Pflichten nicht schuldhaft verletzt. Entsprechend ist es den Eltern trotz der Anschuldigungen gegenüber dem Vater zumutbar, ihrem Kind Unterhalt zu bezahlen.

Sie runzeln die Stirn über diesen Entscheid? Wir auch!