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von Rechtsanwalt Thomas Wehrli


Ist die Post unfehlbar?


In einem neuen Bundesgerichtsurteil (6B_1002/2023 vom 15. November 2023) sprach die Erstinstanz den Beschwerdeführer des geringfügigen Diebstahls für schuldig. Dagegen meldete der Beschwerdeführer Berufung an, worauf das Bezirksgericht das Urteil begründete und die Akten zur Durchführung des Berufungsverfahrens an das Kantonsgericht Luzern übermittelte. Dieses trat am 21. Juni 2023 auf die Berufung nicht ein, weil bei ihm eine Berufungserklärung (d.h. die Begründung, warum der Beschwerdeführer Berufung erhebt) innert Frist nicht eingegangen war. Das begründete Urteil des Bezirksgerichts sei gemäss “Track & Trace”-Auszug am 12. Mai 2023 zur Abholung gemeldet und am 20. Mai 2023 retourniert worden, nachdem der Beschwerdeführer es innert Frist nicht abgeholt habe. Das bezirksgerichtliche Urteil gelte daher als zugestellt.

Der Beschwerdeführer wendet sich mit Beschwerde an das Bundesgericht. Er machte geltend, er habe in Bezug auf das eingeschrieben versandte Urteil der Erstinstanz nie eine Einladung zur Abholung erhalten und deshalb auch keine Berufungserklärung einreichen können.

Die Zustellung einer eingeschriebenen Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, gilt im Strafverfahren am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste. Die Beweislast für die Zustellung von Verfügungen und Entscheiden trägt die Behörde. Entgegen dieser Regel gilt bei eingeschriebenen Postsendungen eine widerlegbare Vermutung, dass die Postsendung korrekt zugestellt worden ist (Zustellschein mit korrektem Datum im Briefkasten). Um diese Vermutung umzustossen, müssen konkrete Anzeichen vorhanden sein, welche auf eine überwiegenden Wahrscheinlichkeit von Fehlern bei der Zustellung schliessen lassen.

Dass sich der Beschwerdeführer umgehend nach Zustellung der vorinstanzlichen Nichteintretensverfügung bei der Post über eine fehlerhafte Postzustellung beschwerte, worauf die Post einräumte, dass ein Brief falsch avisiert worden sei und der Beschwerdeführer keine Möglichkeit gehabt habe, diesen zu holen, weckte beim Bundesgericht erhebliche Zweifel, dass die Zustellung des begründeten Urteils durch die Schweizerische Post korrekt erfolgt sei. Das Bundesgericht urteilte deshalb, dass das begründete Urteil der Erstinstanz nicht rechtswirksam zugestellt wurde.

Auch die Post macht Fehler. Während eines Prozesses sollte dies gut dokumentiert werden.