RECHTLICHES

von Rechtsanwalt Dr. Titus Pachmann


Wann ist eine Ehe lebensprägend?


Im Rahmen einer Ehescheidung stellen sich immer wieder diverse Fragen, so auch was den nachehelichen Unterhalt anbelangt. Für die Festlegung des gebührenden Unterhalts im Sinne von Art. 125 Abs. 1 ZGB nimmt das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung zum Ausgangspunkt, ob die Ehe lebensprägend war oder nicht. In der Vergangenheit war eine Ehe u.a. als lebensprägend zu qualifizieren, sobald ein oder mehrere Kinder aus der Ehe hervorgegangen sind, Ausnahmen blieben jedoch möglich.

Neu ist eine Ehe, die bis zur Trennung drei Jahre andauerte, trotz Geburt eines gemeinsamen Kindes und danach gelebter “klassischer Rollenteilung” rund ein Jahr vor der Trennung, nicht mehr als lebensprägend einzustufen. Auch die berufliche Abhängigkeit der Ehefrau vom Ehemann vermag daran nichts zu ändern (Urteil des Bundesgerichts 5A_568/2021 vom 25. März 2022). Diese Rechtsprechung ist im Ergebnis vorteilhaft für den unterhaltsverpflichteten Ehemann und zum Nachteil der unterhaltsberechtigten Ehefrau, gelangt aber nur bei sehr guten finanziellen Verhältnissen zur Anwendung.

Ist eine Ehe lebensprägend, so besteht betreffend der Unterhaltsfestsetzung Anspruch darauf, den zuletzt gelebten gemeinsamen Standard fortzuführen unter Vorbehalt der Eigenversorgungskapazität und genügenden Mitteln. Bei einer nicht lebensprägenden Ehe ist für den nachehelichen Unterhalt hingegen am vorehelichen Standard anzuknüpfen. Der berechtigte Ehegatte ist so zu stellen, wie wenn die Ehe nicht geschlossen worden wäre (sog. Heiratsschaden, BGE 147 III 249 Erw. 3.4.1 und 3.4.6). Bei Kurzehen ist gewissermassen eine Art negatives Interesse (“Heiratsschaden”) und bei lebensprägenden Ehen sozusagen ein positives Interesse (“Scheidungsschaden”) zu vergüten. Dennoch wird der nacheheliche Unterhalt nicht in erster Linie mit dem Schadenersatzgedanken, sondern primär mit der “nachehelichen Solidarität” begründet (BGE 147 III 249 Erw. 3.4.1). Die “nacheheliche Solidarität” beruht auf einem Fortwirken der ehelichen Gemeinschaft und ein allfälliger nachehelicher Unterhalt muss sich folglich an dem ausrichten, was die konkrete Ehe ausgemacht hat. Richtschnur für eine einzelfallgerechte Festsetzung sind mithin weniger abstrakte Vermutungen als vielmehr die Beurteilung, was angesichts der individuellen Verhältnisse (Aufgabe der wirtschaftlichen Selbständigkeit, Kinderbetreuung, Ehedauer, Möglichkeit der Wiedererlangung der wirtschaftlichen Selbständigkeit sowie anderweitige finanzielle Absicherungen) als angemessen erscheint (BGE 147 III 249 Erw. 3.4.6).

Im Urteil des Bundesgerichts 5A_568/2021 vom 25. März 2022 berief sich die Ehegattin u.a. auf ihre nachehelichen Betreuungspflichten, welche die Ehe als lebensprägend erscheinen liessen sowie, dass sie sich mit ihrem Unternehmen in die wirtschaftliche Abhängigkeit des Ehemannes begeben habe und zufolge Auflösung der Geschäftsbeziehungen nach der Trennung und unter Berücksichtigung der fortbestehenden Betreuungspflichten nicht mehr an ihre frühere Stellung anknüpfen könne (siehe hierzu Urteil des Bundesgerichts 5A_568/2021 vom 25. März 2022 Erw. 3.2.2).

Dies reichte allerdings nicht aus, damit das Bundesgericht von einer lebensprägenden Ehe ausging.