RECHTLICHES

von Rechtsanwalt Filip Tomic


Unklarheiten bei der angemessenen Notwehr mit einem Klappmesser


Das Bundesgericht musste kürzlich darüber entscheiden (Urteil 6B_1454/2022 vom 7. April 2022), ob eine beschuldigte Person sich mit einem Klappmesser gegen einen Angriff zur Wehr setzen durfte.

Der Beschuldigte wurde im Rahmen einer Auseinandersetzung zunächst von einer Person mit einem Glasgegenstand angegriffen, welchen der Angreifer auch gegen den Hals des Beschuldigten richtete, worauf sich dieser bei der Abwehr an der Hand verletzte. Daraufhin verliess der Beschuldigte den Ort des Geschehens und holte ein Klappmesser. Als er zurückkehrte, versuchte der ursprüngliche Angreifer erneut, auf ihn loszugehen, wurde aber von mehreren Personen zurückgehalten.

Der Beschuldigte entfernte sich wieder, wobei sich eine ihm unbekannte Person in den Weg stellte und ihn für kurze Zeit mit den Armen im Bereich der Schultern festhielt. Um sich zu befreien, stach der Beschuldigte mit dem Klappmesser dem Unbekannten in die linke Seite des Brustkorbs.
Sowohl das Bezirksgericht als auch das Obergericht sprachen den Beschuldigten vom Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung frei. Die Oberstaatsanwaltschaft liess jedoch auch dann nicht locker und beantragte die Aufhebung desselben – mit Erfolg.

Ein Freispruch wegen Notwehr setzt zunächst voraus, dass die betroffene Person sich in einer Notwehrlage befunden hat bzw. aufgrund der Gesamtumstände davon ausgehen durfte, dass sie sich in einer entsprechenden Lage befindet. Das Bundesgericht ging dabei, auch wenn sich dies später als falsch herausstellte, zugunsten des Beschuldigten davon aus, dass er infolge des zeitlichen und örtlichen Zusammenhangs der beiden Situation davon habe ausgehen können, dass der ursprüngliche Angreifer und der Unbekannte zusammengehörten. Dabei kam ihm insbesondere zugute, dass, als der Beschuldigte den Ort des Angriffs verliess, jemand der Beteiligten laut ausrief „halt ihn fest, pack ihn“.

Für den Freispruch ist zudem erforderlich, dass die Notwehrhandlung in einem angemessenen Verhältnis zum erfolgten Angriff steht. Mit Waffen sei gemäss Bundesgericht besondere Zurückhaltung geboten. Ein Messereinsatz müsse, falls möglich, angedroht werden und grundsätzlich sollte daraufhin ein schonenderer Einsatz versucht werden, namentlich gegen weniger verletzliche Körperteile wie Beine oder Arme. Deshalb verneinte das Bundesgericht die Angemessenheit.

Da die beiden kantonalen Gerichte übereinstimmend zum gegenteiligen Ergebnis gelangt sind, bleibt festzuhalten, dass die Bewertung der Gesamtumstände gewisse Unklarheiten mit sich bringt. Weil das Bundesgericht zugunsten des Beschuldigten annahm, dass der Angreifer sowie die unbekannte Person zusammengehörten, sei die Frage erlaubt, wie sich der Beschuldigte gegen den aus seiner Sicht wohl unmittelbar bevorstehenden weiteren Angriff hätte zur Wehr setzen können, während der Unbekannte ihn an beiden Armen festhielt. Er musste bereits zuvor seine Hände einsetzen, um seinen Hals zu schützen. Sicherlich ist zu berücksichtigen, dass weitere Personen den Angreifer festhielten. Für den Beschuldigten sei es dennoch sehr schwierig gewesen, während dem Festhalten zu beurteilen, wie unmittelbar die Gefahr eines gemeinsamen Handelns der beiden Personen war, zumal er dafür beide Geschehnisse innerhalb eines sehr kurzen Zeitraumes parallel beurteilen musste.

Das Bundesgericht stellte dazu fest, dass der Beschuldigte beim Verlassen des Ortes erkannt hatte, dass der Angreifer zurückgehalten wurde. Es wird aber nichts darüber erwähnt, ob der Beschuldigte im Zeitpunkt der Begegnung mit dem Unbekannten weiterhin davon ausging, dass sich die Situation am ursprünglichen Ort des Geschehens weiterhin so präsentierte. Betrachtet man die Situation isoliert voneinander ist schnell klar, dass ein Stich in den Brustkorb gegen eine Person, welche eine andere an beiden Armen festhält, nicht angemessen ist. Betrachtet man jedoch beide Situationen als Einheit kann man bezüglich der Prüfung der Notwehr genauso gut zum gegenteiligen Ergebnis gelangen.