RECHTLICHES

von Stephanie Villiger, MLaw


Das Teilnahmerecht der Verteidigung im polizeilichen Ermittlungsverfahren


Ein Strafverfahren ist in verschiedene Phasen unterteilt. Das Vorverfahren gliedert sich in das polizeiliche Ermittlungsverfahren und das von der Staatsanwaltschaft geführte Untersuchungsverfahren. Es geht darum festzustellen, ob ein hinreichender Tatverdacht dafür besteht, dass die beschuldigte Person eine strafbare Handlung begangen hat. Ist dies der Fall, erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage beim Gericht, sofern sie keinen Strafbefehl erlassen kann. Das Hauptverfahren beginnt mit dem Eingang der Anklage beim urteilenden Gericht und endet mit der Urteilseröffnung. 

Der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit der Beweiserhebungen im Untersuchungs- und Hauptverfahren bestimmt, dass die Parteien das Recht haben, bei Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte anwesend zu sein und einvernommenen Personen Fragen zu stellen (vgl. Art. 147 Abs. 1 StPO).

Art. 159 Abs. 1 StPO sieht in Bezug auf die beschuldigte Person vor, dass diese bei polizeilichen Einvernahmen das Recht hat, dass ihre Verteidigung anwesend sein und Fragen stellen kann. Die genannte gesetzliche Bestimmung sagt jedoch nicht ausdrücklich, bei welchen polizeilichen Einvernahmen im Ermittlungsverfahren die Verteidigung teilnahmeberechtigt ist. Das Bundesgericht hatte in früheren Entscheiden ausgeführt, gemäss Art. 159 Abs. 1 StPO komme der beschuldigten Person das Recht zu, „dass ihre Verteidigung, nicht aber sie selbst, bei Beweiserhebungen durch die Polizei, etwa bei polizeilichen Einvernahmen von Auskunftspersonen, anwesend sein und Fragen stellen kann“ (BGE 143 IV 397, E.3.3.1.).

Diese Auffassung wird in der Literatur nicht geteilt und auch das Bundesgericht hält nicht länger daran fest. Im Urteil 6B_780/2021 vom 16. Dezember 2021 kommt das Bundesgericht unter Verweis auf die systematische Stellung der Bestimmung und die bundesrätliche Botschaft zum Schluss, dass der Anspruch der beschuldigten Person auf Anwesenheit ihrer Verteidigung nach Art. 159 Abs. 1 StPO ausschliesslich bei der polizeilichen Einvernahme der beschuldigten Person gilt. Im polizeilichen Ermittlungsverfahren kann die Verteidigung somit bei anderen Beweiserhebungen als der Einvernahme der beschuldigten Person nicht teilnehmen und entsprechend keine Fragen stellen, was insofern eine Verschlechterung der Teilnahmerechte der Verteidigung darstellt. Angesichts der systematischen Stellung von Art. 159 StPO im Kapitel „Einvernahme der beschuldigten Person“ überzeugt die Präzisierung der Rechtsprechung jedoch und schafft Klarheit.