KURIOSES

von Rechtsanwalt Dr. Titus Pachmann


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Fehlerhafte Entscheide sind nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung nur dann nichtig, wenn der ihnen anhaftende Mangel besonders schwer ist, wenn er offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und wenn zudem die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Ist ein Urteil nichtig, so existiert es nicht und hat keinerlei Rechtswirkungen (BGE 129 I 361). Da die Hürde der Nichtigkeit sehr hoch angesetzt ist, geschieht es selten, dass das Bundesgericht die Nichtigkeit eines Entscheides einer Vorinstanz feststellen muss. Nahezu einzigartig ist es, wenn dies aufgrund einer Verurteilung wegen versuchten Mordes infolge fehlender funktioneller Zuständigkeit dennoch erfolgt (Urteil 6B_165/2020 vom 20. Mai 2020).

Das erstinstanzliche Gericht sprach den betroffenen Beschuldigten in seinem Urteil vom 22. September 2016 des Raubes, der Drohung, der Sachbeschädigung sowie der Beschimpfung schuldig. Mit weiteren gleichentags ergangenen Urteilen wurden auch die beiden Mitbeschuldigten zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Alle drei erhoben gegen ihre Urteile selbständig Berufung ans Obergericht. Bereits mit Beschluss vom 6. März 2018 kam das Obergericht zum Schluss, dass die drei Urteile des erstinstanzlichen Gerichts aufgehoben werden und zur neuen Beurteilung an das erstinstanzliche Gericht zurückgewiesen werden müssen. Das Obergericht nahm dabei an, dass die Tatsache, dass das Bezirksgericht es unterlassen habe, die Staatsanwaltschaft zur Ergänzung der Anklage aufzufordern, einen wesentlichen Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens darstelle. Leider verpasste es das Obergericht, den Parteien, insbesondere den Beschuldigten, vorgängig zu diesem Beschluss Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, wodurch es das rechtliche Gehör derselben verletzte. Dieser Beschluss blieb aber in der Folge unangefochten, wobei in dieser Hinsicht sicherlich erschwerend hinzukam, dass das Obergericht den Beschluss ohne Rechtsmittelbelehrung eröffnete. Der Rückweisungsentscheid an das erstinstanzliche Gericht erwuchs demzufolge in Rechtskraft, womit das Verfahren wiederum in die Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts fiel.

Das Bezirksgericht liess das Verfahren dann aus unerfindlichen Gründen ein Jahr ruhen – (nicht nur) für das Obergericht wohl zu lange. Mit Verfügung vom 12. März 2019 zog das Obergericht das Verfahren wieder an sich. Eine gesetzliche Grundlage für dieses Vorgehen ergibt sich aus der schweizerischen Strafprozessordnung indessen nicht. Der zuständige Oberrichter teilte dabei seine Ressourcen „geschickt“ ein, indem er lediglich das Verfahren des betroffenen Beschuldigten, den er wohl als Haupttäter auserkoren hatte, an sich zog, während für die Mitbeschuldigten keine entsprechende Verfügung erlassen wurde. In der Folge stellte sich das Obergericht hinsichtlich der zu beurteilenden Delikte gegen die Erwägungen im ursprünglichen Urteil des erstinstanzlichen Gerichts und forderte die Staatsanwaltschaft autoritativ dazu auf, dessen Anklageschrift auch um den Vorwurf des versuchten Mordes zu ergänzen, um den Beschuldigten schliesslich am 19. Dezember 2019 neben der Verurteilung wegen Raubes und Beschimpfung auch des versuchten Mordes schuldig zu erklären.

Der Oberrichter führte damit das Verfahren zwar innerhalb von lediglich neun Monaten zu Ende, jedoch unter Nichtbeachtung zentraler Verfahrensrechte des Beschuldigten. Insbesondere die funktionelle Zuständigkeit, welche sicherstellen soll, dass eine beschuldigte Person zunächst seine Verteidigungsrechte im erstinstanzlichen Verfahren umfassend wahrnehmen kann, um daraufhin bei deren Verletzung Berufung beim Obergericht einlegen zu können, wurde durch das Obergericht schlicht missachtet. Vielmehr wurde mittels Verfügung ein Verfahren ohne jegliche gesetzliche Grundlage angehoben. Das obergerichtliche Urteil wurde infolge dieses gravierenden Mangels durch das Bundesgericht entsprechend als nichtig erklärt.