RECHTLICHES

von Rechtsanwältin Flavia Dudler


Das AHV-Rentensystem der Schweiz diskriminiert Männer


Die Schweiz macht bei Renten für verwitwete Personen eine unzulässige Ungleichbehandlung zwischen Männern und Frauen – so der Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 20. Oktober 2020.

Der EGMR hiess die Beschwerde eines Witwers gut, der nach dem Tod seiner Ehefrau die beiden Kinder alleine aufgezogen hatte. Nachdem die jüngste Tochter volljährig wurde, wurde ihm die Witwerrente verwehrt. Die Aufhebung der Rente wäre nicht erfolgt, hätte es sich bei dem Witwer um eine Frau gehandelt – so die berechtigte Rüge des Beschwerdeführers.

Das Bundesgericht wies die Beschwerde des Witwers im Mai 2012 noch mit der Begründung ab, der Gesetzgeber habe im AHV-Gesetz eine geschlechtsspezifische Unterscheidung bewusst gewollt, weil sie sachlich bzw. biologisch begründet sei. Es äusserte allerdings selbst gewisse Zweifel an der Zulässigkeit dieser Bestimmung, war jedoch an die Bundesgesetzgebung gebunden.

In der Tat sieht Art. 23 Abs. 1 AHVG zwar vor, dass Witwen und Witwer Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente haben, sofern sie im Zeitpunkt der Verwitwung Kinder haben. Im Fall der Witwerrente erlischt der Anspruch auf die Rente allerdings nicht nur bei Wiederverheiratung oder mit dem Tod des Betroffenen, sondern zusätzlich auch dann, wenn das letzte Kind des Witwers volljährig wurde (vgl. Art. 24 Abs. 2 AHVG).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gab dem Beschwerdeführer bzw. Witwer Recht. Er hielt fest, dass der zeitlich beschränkte Witwerrentenanspruch noch auf altherkömmlichen Vorstellungen beruhe, wonach der Ehemann für den Lebensunterhalt der Frau sorge. Diese Sichtweise entspreche aber nicht mehr den heutigen Gegebenheiten, so der EGMR weiter.
Der deutliche Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist zu begrüssen. Er ist ein wichtiger Schritt für die geschlechterneutrale Altersvorsorge im geltenden Rentensystem.