RECHTLICHES
von Rechtsanwältin Martina Widmer
Inhärentes Sturzrisiko beim Radrennsport
An einem Amateurradrennen kam es bei einem Überholmanöver zu einer Streifkollision zwischen zwei Velofahrern, wobei der Überholte bei einer Fahrgeschwindigkeit von 70 km/h zu Fall kam und infolge eines Schädelhirntraumas verstarb. Die nachfolgenden drei Fahrer der Spitzengruppe fuhren in das Rennrad des Gestürzten. Sie fielen ebenfalls um und erlitten körperliche Verletzungen.
Das Bezirksgericht Zurzach sprach den Überholenden der fahrlässigen Tötung und der mehrfachen fahrlässigen Körperverletzung schuldig. Er legte Berufung ein, worauf das Obergericht des Kantons Aargaus ihn von allen Vorwürfen freisprach. Es setzte sich u.a. vertieft mit dem Reglement des Schweizerischen Radsportverbandes auseinander, welches jedoch keine ausdrücklichen Regelungen zum Überholen enthält. Deshalb wurden verschiedene Personen zu den Usanzen beim Überholen im Radrennsport befragt. Nach diesen Aussagen seien Berührungen zwischen Radrennfahren nicht aussergewöhnlich, auch nicht bei hohen Tempi. Auch würden beim Windschattenfahren sehr kleine Abstände gewahrt, die im Notfall kaum Zeit für adäquate Reaktionen zuliessen. Insofern sei mit der vorliegenden Berührung das sportartspezifische Risiko nicht überschritten worden.
Die Erben des verstorbenen X. und weitere Zivilkläger zogen den Fall ans Bundesgericht weiter.
Das Bundesgericht stützte in seinem Urteil 6B_261/2018 die Ansicht der Vorinstanz. Die Verurteilung wegen einem Fahrlässigkeitsdelikt setzt eine Sorgfaltspflichtverletzung voraus. Eine solche liegt vor, wenn der Täter im Zeitpunkt der Tat auf Grund der Umstände sowie seiner Kenntnisse und Fähigkeiten die Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte erkennen können und müssen, und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Risikos überschritten hat. Grundsätzlich gilt, dass derjenige, der eine Gefahr schafft, durch zumutbare Schutzmassnahmen zu verhindern hat, dass Dritte dadurch verletzt werden. Eine weitere Schranke der Sicherungspflicht liegt in der Eigenverantwortung des einzelnen Sportlers. Jede Sportart birgt ein unterschiedlich hohes sportartspezifisches Grundrisiko in sich. Bei Realisierung des sportartspezifischen Grundrisikos ist von der strafrechtlichen Ahndung jedoch abzusehen.
Das Bundesgericht führte aus, dass der Überholende beim tödlich endenden Überholmanöver kein Risiko schuf, welches über das übliche Grundrisiko des Radrennsports hinausging. Zumal Radrenn-Überholmanöver in besonderem Masse vom Wettkampfcharakter geprägt sind. Letztlich sind Stürze mit möglicherweise gravierenden Folgen im Radrennsport ein nicht auszuschliessendes Risiko.
Weiter hielt das Bundesgericht fest, dass das Strassenverkehrsgesetz (SVG) bei Radrennen auf eigens abgesperrten und gesicherten Strassen keine Anwendung findet. Ein Radrennen ist vom Wettkampfcharakter geprägt und unterscheidet sich daher wesentlich von den sonst im Strassenverkehr üblichen Verkehrsvorgängen.
Vorliegend hat sich in tragischer Weise ein Grundrisiko des Radrennsportes verwirklicht, welches nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung jeder Sportler in Kauf nimmt. Insofern wurde die Grenze des erlaubten Risikos durch ein Überwohlmanöver nicht überschritten.